09.10.2023

Reggio-Pädagogik: Raumgestaltung

Wie Architektur die Entwicklung von Kindern fördert

Architektur kann sich positiv auf die Entwicklung von Kindern auswirken – diese Überzeugung ist fester Bestandteil der Reggio-Pädagogik. Bei der Planung des Kinderhauses in Markt Rettenbach hat das Team von SCHUSTER engineering diesen Ansatz gemeinsam mit den Bauherren verfolgt. Entstanden ist eine Kombination aus Kindergarten und Kita, die nicht nur an die Grundsätze der Reggio-Pädagogik angelehnt ist, sondern auch einen Fokus auf Nachhaltigkeit legt.

Raum mit Spielsachen und großen Fenstern im Kinderhaus Markt Rettenbach

Fenster auf der Höhe von Kinderaugen und ein vielseitig nutzbarer Raum – das sind nur zwei Ansätze der Reggio-Pädagogik.

Was ist Reggio-Pädagogik?

Kinder wollen ihre Umgebung erkunden und dabei selbst gestalten, wie sie lernen. Als Entdecker, Forscher und Künstler wollen sie die Welt verstehen und in eine Beziehung zu sich bringen. Sie sind kompetent, neugierig und aktiv am Lernprozess interessiert. Nach diesen Grundsätzen ist die Reggio-Pädagogik aufgebaut. Ihr Mitbegründer, Loris Malaguzzi, schreibt entsprechend: „Hundert Sprachen hat das Kind.“ Damit macht er deutlich, auf welch vielfältige Weise Kinder in Austausch mit ihrer Umwelt treten, wie sie die Welt begreifen und ihrer eigenen Identität Ausdruck verleihen.

Entstanden ist der elementarpädagogische Ansatz in der italienischen Provinz Reggio Emilia, die dem Konzept auch ihren Namen leiht. Loris Malaguzzi hat hier 1945 einen „Volkskindergarten“ gegründet, der die Kommunikation und den Dialog von Kindern ins Zentrum stellt. Insbesondere in den 1960er Jahren entwickelt sich daraus das Profil der Reggio-Pädagogik. Heute ist das Konzept international anerkannt und weit verbreitet.

Wie hängen Architektur und Reggio-Pädagogik zusammen?

Damit Kinder auf individuelle Weise in Austausch mit ihren Mitmenschen und ihrer Umwelt treten können, muss auch die Raumgestaltung ihren Beitrag leisten. Die Umgebung soll herausfordernd sein und gleichzeitig Konzentration ermöglichen. Nicht umsonst spricht man in der Reggio-Pädagogik vom Raum als „drittem Erzieher“. Neben dem Kind selbst sowie dem sozialen Umfeld, den Eltern und pädagogischen Fachkräften hat die Umgebung laut dem Ansatz einen entscheidenden Anteil an der Erziehung.

Die Architektur von Kitas und Kindergärten soll also den Bedürfnissen und Interessen der Kinder gerecht werden und ihre Entdeckungsfreude und Kreativität fördern. Auch den Austausch mit der Umwelt soll sie anregen. Dementsprechend offen sind die Räume geplant, die dem Konzept folgen. Das beginnt bereits bei der Höhe der Fenster, die so platziert sind, dass Kinder auf ihrer eigenen Augenhöhe möglichst gut nach draußen sehen können.

Der Eingangsbereich im Kinderhaus Markt Rettenbach - im Sinne der Reggio-Pädagogik als Raum der Begegnung geplant.

Die offen gestaltete “Piazza” der Kita Hand in Hand in Markt Rettenbach

Offenheit in der Architektur als Grundsatz der Reggio-Pädagogik

Offenheit als zentraler Aspekt der Architektur zeigt sich auch in Markt Rettenbach. Das wird schon beim Betreten des neu geplanten Kinderhauses „Hand in Hand“ deutlich.

Direkt am Eingang befindet sich die „Piazza“, das Zentrum beziehungsweise der „Marktplatz“ des Kinderhauses. Die Piazza dient als Raum der Begegnung – sowohl zwischen den Kindern untereinander als auch mit den Eltern. Hier gibt es genug Platz für Veranstaltungen und Ausstellungen. Auch der Garderobenbereich kommt hier unter.

Zugleich bildet die Piazza die Schnittstelle zwischen den einzelnen Bereichen des Kinderhauses. Sie verbindet den zweigeschossigen Kindergarten-Bereich für Kinder über drei Jahre mit der Krippe im Norden für Kinder unter drei Jahren.

Die Aufteilung von Gruppenraum und Nebenraum, wie man sie in konventionellen Kindergärten häufig findet, sucht man in Markt Rettenbach vergeblich. Hier gibt es keine festen Gruppenräume. Stattdessen können die verschiedenen Bereiche, die sich an die Piazza anschließen, flexibel genutzt werden. Ähnlich den Marktständen auf einer echten Piazza bietet jeder Bereich Raum für unterschiedliche Aktivitäten.

Offene Raumgestaltung nach Prinzipien der Reggio-Pädagogik.

Viel Tageslicht und ein Blick ins Freie schaffen eine optimale Verbindung zur Umgebung.

Kreativität und individuelle Entfaltung stehen im Mittelpunkt

Die Aktivitäten, denen die Kinder in den unterschiedlichen Bereich nachgehen können, sind breit gefächert: Es gibt einen Werkraum, ein Atelier sowie einen „Snoezelenraum“ – diese Idee aus den Niederlanden verbindet gemütliche Sitz- und Liegegelegenheiten mit sanften Klängen und Lichteffekten. Ziel dabei ist es, Sinnesreize zu ordnen, Interesse zu wecken, Erinnerungen hervorzurufen und die Beziehung der Kinder untereinander zu stärken.

Flure im eigentlichen Sinn gibt es im Kinderhaus in Markt Rettenbach nicht. Stattdessen gibt es sogenannte Spielflure. Damit können auch die Verbindungen zwischen den einzelnen Räumen von den Kindern zum Spielen genutzt werden. Die Spielflure verfügen über kleine Fenster auf Augenhöhe der Kinder. Von dort können sie in die einzelnen Gruppenräume, zum Speiseraum sowie zum zweigeschossigen Luftraum blicken. Der Blick durchs Fenster macht die Räume dahinter aus einer neuen Perspektive erlebbar. Außerdem regt er die Kinder dazu an, mit anderen Kindern zu interagieren. Soziale Interaktion ist in der Reggio-Pädagogik von zentraler Bedeutung.

Zusätzlich hat das Team von SCHUSTER engineering bei der Planung darauf geachtet, kleine Rückzugsorte in das Gebäude zu integrieren. Fensterbänke zum Sitzen, in die Möbel integrierte Kuschelsofas sowie der Bereich unter der Treppe werden von Kindern als Orte der Konzentration, aber auch zum Austausch oder zum Entspannen individuell genutzt.

Der Bereich unter der Treppe als besonderer Ort für Kinder

Der Bereich unter der Treppe lädt als Rückzugsort zum Spielen ein.

Den Wert des Bestehenden erkennen und bewahren

Das erste Kinderhaus in Markt Rettenbach wurde in den 1950er Jahren ursprünglich als Wohnhaus gebaut und anschließend immer wieder erweitert – bis es schließlich zu klein wurde und eine erneute Erweiterung aus brandschutztechnischen und statischen Gründen nicht umsetzbar war.

Nach gründlicher Darstellung unterschiedlicher Möglichkeiten durch das Planungsteam von SCHUSTER engineering mit Fachplanern entschied sich der Bauherr für einen Teil-Abriss mit anschließendem Neubau. Ein solcher Entscheidungsprozess ist nicht leicht. Denn der Wert des Gebäudes, das in dem Ort eine lange Tradition hat, ist nicht nur ein materieller, sondern auch ein emotionaler.

Umso wichtiger ist es dem Planungsteam, beim Neubau auf Nachhaltigkeit und Langlebigkeit zu achten. Ziel war es außerdem, möglichst viele Elemente des bestehenden Gebäudes zu erhalten und den Kindern auf diese Weise den Wert des Bestehenden zu vermitteln. Zahlreiche Elemente wurden auf diese Weise in den Neubau integriert:

Das alte Gartentor mit Ziersteinen eines ansässigen Steinmetzes etwa hat im Garten des neuen Kinderhauses einen Platz gefunden. Auch die alten Fenster des Bestandsgebäudes konnten in den Innenbereich des Neubaus (im Krippenbereich) integriert werden. Tradition und ein Gespür für den Umgang mit Rohstoffen werden auf diese Weise für die Kinder erlebbar.

Das Kinderhaus "Hand in Hand" in Markt Rettenbach von außen.

Die Kita “Hand in Hand” in Markt Rettenbach vereint zahlreiche Gestaltungsmerkmale der Reggio-Pädagogik

Natur und Umwelt miteinbeziehen

Die Architektur des Kinderhauses in Markt Rettenbach greift also den Gedanken der Nachhaltigkeit auf. Ganz den Grundsätzen der Reggio-Pädagogik folgend spiegelt sich dies auch im direkten Verhältnis zur Natur. Nach Süden hin geben große Fensteröffnungen den Blick in den Garten frei. Auch dies soll die Neugier der Kinder wecken und sie dazu anregen, sich ihre Umwelt mit allen Sinnen anzueignen.

Neugier und die Freude an der Interaktion sollen sich jedoch nicht nur auf die Natur richten. Auch die Menschen, die am Kinderhaus vorbeigehen, werden einbezogen. In Richtung Norden ist die Fassade durch eine große Fensterfront unterbrochen. Von der Piazza aus sehen die Kinder dadurch auf einen Fußweg, der auch von der Öffentlichkeit als Durchgang genutzt wird. Das schafft eine Blickbeziehung zu den Passanten und fördert die Offenheit des Kita-Konzepts. Zusammen mit der pädagogischen Arbeit der Erzieherinnen soll so auch die Architektur dazu beitragen, Kindern einen optimalen Start in ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen.